Vom liberalen zum sozialen zivilprozeßrecht
Die nach dem Zusammenbruch der staatlichen Gliederung in der Mitte Europas infolge des „Großen Krieges“ neu entstandenen Nationalstaaten übernahmen vielfach zunächst das bislang auf ihrem Territorium geltende Recht. Jedoch strebte man alsbald nach der Schaffung einer eigenen Rechtsordnung durch den Erlaß von Kodifikationen in den zentralen Rechtsbereichen. Eine zentrale Rolle spielte hierbei die Vereinheitlichung der nationalen Gerichtsverfassung und des Prozeßrechts. Für den mitteleuropäischen Rechtsraum stellt sich nach 1918 deshalb nicht nur die Frage nach einer Sozialisierung des materiellen Zivilrechts, sondern auch des Zivilverfahrensrechts.
Zur Debatte stand also, ob das Zivilprozeßrecht nach klassisch-liberaler Theorie als Instrument ausschließlich der Durchsetzung subjektiver Rechte der Parteien gleichsam einen staatsfreien Raum schafft, in dem der Staat mit dem Richter einen neutralen Schiedsrichter zur Verfügung stellt, jedoch den Parteien – als Fortsetzung der Privatautonomie im Prozeß – die vollständige Herrschaft über alle Elemente des Verfahrens beläßt. Ob das Zivilprozeßrecht also schlicht „Kampfregel für den sich vor dem passiv bleibenden Gericht im freien Spiel der Kräfte vollziehenden Streit der Parteien“ ist, mit der Folge, daß gegebenenfalls der Raffinierte und Skrupellose Sieger bleibt.
Oder ob das Zivilverfahren auch staatlichen Zwecken wie der Durchsetzung bestimmter Gerechtigkeitspostulate oder der Erfüllung von Gemeinschaftsaufgaben dient, also neben den von der liberalen Staatsidee allein anerkannten Sicherungsgedanken der Wohlfahrtsgedanke tritt, dessen Verwirklichung einen staatlichen Eingriff in den Kampf der Parteien erfordert.
Oder ob das Zivilprozeßrecht darüber hinaus sogar ganz überwiegend oder ausschließlich in den Dienst eines Staates gestellt wird, für den die Durchsetzung der Rechte Einzelner zum Nebenprodukt bei der Bewährung der Rechtsordnung wird und so die Befugnisse der Parteien hinter der Rücksicht auf die Volksgemeinschaft zurücktreten müssen.
Es lassen sich zahllose spannende Fragen an die zahlreichen während der Zwischenkriegszeit in den neugegründeten mitteleuropäischen Staaten entstandenen Entwürfe und Gesetzbücher stellen. Eine Forschgruppe, der Wissenschaftler/innen aus verschiedenen mitteleuropäischen Staaten angehören, unterzieht sich dieser Aufgabe.
Förderung: Regensburger Universitätsstiftung Hans Vielberth
Publikation: Martin Löhnig (Hrsg.), Varienties of Social Civil Procedure: The Reform of Civil Procedure Law in Central Europe in the Interwar Period, Berlin (Duncker&Humblot) 2024