Das Eherecht nach dem Großen Krieg
Das Europa der Zwischenkriegszeit ist kein Resultat der großen Zerstörungen und Verluste an der Front. Massengesellschaften und Massenkonsum, die Verstädterung, die Herrschaft der Großindustrie und der Finanzwelt, all das war schon vor dem Krieg entstanden. Der Krieg war für die betroffenen Gesellschaften also kein radikaler Bruch, auf den ein Neubeginn folgte, sondern die Themen und Strömungen der Zeit zogen ihre Linien durch diesen Krieg hindurch. Allerdings hat der Große Krieg als Katalysator gewirkt, indem er die Entwicklung beschleunigte und allgemein geteilte gesellschaftliche Fundamente, die von religiösen und sozialen Institutionen unterstützte Gesellschaftskonzeption zertrümmerte.
Viele Regelungen des geltenden Eherechts erschienen vor diesem Hintergrund plötzlich als aus einer längst vergangenen Epoche überkommen. Zwar hatten schon vor 1914 ein nationale und transnationale Reformdiskurse existiert, nun jedoch nahm die Entwicklung – zumal vor dem oftmals veränderten Verfassungshintergrund – an Fahrt auf. Zahlreiche Gesetzentwürfe entstanden, die beispielsweise eine Reform des Ehescheidungsrechts oder des Ehegüterrechts zum Gegenstand hatten. Einige von ihnen wurden zügig Gesetz, andere erst nach langen Debatten. Einige sind gescheitert, denn die Zeit spielte gegen sie: Im Ringen der gesellschaftlichen Kräfte um die Neuerrichtung der gesellschaftlichen Fundamente gewannen restaurative Auffassungen nach und nach an Boden.
Reformdiskurs und (gescheiterte oder geglückte) Reformen des Eherechts in den Jahren nach dem Großen Krieg sind für einige Staaten bereits in Einzelstudien untersucht worden. In anderen Staaten hat das Projekt erstmals intensive, drittmittelgeförderte Forschungsarbeiten auf dem Feld der jüngeren Eherechtsgeschichte angestoßen. Nun wird die Eherechtsreform in Europa erstmals umfassend vergleichend beleuchtet und in den Kontext eines transnationalen »nachgeholten Kulturkampfes« im mitteleuropäischen Rechtskulturraum gestellt.
Förderung: Förderverein Europäische Rechtskultur e.V.; HRZZ (Hrvatske zaklade za znanost, Projekt IP-2018-01-2539); ETAG (Eesti Teadusagentuur, Grant IUT20-50)
Publikation: Martin Löhnig (Hrsg.), Kulturkampf um die Ehe: Reform des europäischen Eherechts nach dem Großen Krieg, Tübingen (Mohr Siebeck) 2021