Mitteleuropäisches Strafrecht
Die nach dem Zusammenbruch der staatlichen Gliederung in der Mitte Europas infolge des „Großen Krieges“ neu entstandenen Nationalstaaten übernahmen vielfach zunächst das bislang auf ihrem Territorium geltende Recht. Jedoch strebte man alsbald nach der Schaffung einer eigenen Rechtsordnung durch den Erlaß von Kodifikationen in den zentralen Rechtsbereichen, insbesondere eines eigenen Strafgesetzbuchs. Es begann eine regelrechte Kodifikationswelle in Mitteleuropa.
Die entstandenen Gesetzbücher stehen an einer Schwelle: Einerseits stehen sie auf den Schultern der zuvor entstandenen neuen Strafgesetzbücher in Westeuropa, andererseits weisen zahlreiche Protagonisten der Refromgesetzgebung eine Nähe zur "modernen Schule" auf. Hieran knüpfen sich zahlreiche Fragen an:
Wie war die Ausgangslage nach 1918/19? Was waren die treibenden Kräfte der Reformgesetzgebung und ihre Gegner? Welche Vorbilder gab es? Erfolgte eine Abgrenzung gegenüber der alten Strafgesetzgebung? Wie weit reichte die Anbindung der Reformüberlegungen an die internationale Diskussion) Welchen Einfluß hatte die v. Liszt-Schule auf die Reformdebatte und die Reformgesetze in der Zwischenkriegszeit (etwa: Umgang mit Gewohnheitsverbrechern, Maßregeln, unbestimmte Freiheitsstrafe, Geldstrafe, Jugendstafrecht, Strafvollzug).
Allen Strafgesetzbüchern ist gemeinsam, daß sie sich durch hohe Qualität auszeichnen. Jedes Einzelne von ihnen verdient eine intensive wissenschaftliche Bearbeitung. Der vergleichende Blick auf die Arbeiten verspricht einen weiteren Erkenntnisgewinn, weil er den Blick auf ein transnationales Expertennetzwerk eröffnet.
Eine Gruppe mitteleuropäischer Rechtswissenschaftler*innen befaßt sich gegenwärtig mit der Beantwortung der oben aufgeworfenen Fragen.
Publikation: Arnd Koch/Martin Löhnig (Hrsg.),
Strafgesetzbücher der Zwischenkriegszeit, Tübingen (Mohr Siebeck) 2023.