Deutscher Bund und nationale Rechtseinheit
Die letzten Jahre des Deutschen Bundes sind eine Phase der Erarbeitung einer zahlreiche Einzelstaaten überspannenden neuen Zivilrechtsordnung: Handelsrecht, Schuldrecht, Zivilprozeßrecht, Konkursrecht, Urheberrecht, Patentrecht und die Zusage gegenseitiger Rechtshilfe sollten den ersten Schritt bei der Etablierung einer überstaatlichen Rechtsordnung machen. Immer wieder sind es vor allem die wirtschaftsnahen Rechtsgebiete, mit denen das Entstehen einer Zivilrechtsordnung beginnt, nachdem zunächst ein völkerrechtlicher Rahmen geschaffen und ein grenzüberschreitender Austausch von Leistungen attraktiv gemacht worden war.
Es gab starke Kräfte, die diesen Prozeß angestoßen haben, vor allem die Mittelstaaten im Deutschen Bund, die sich seit 1859 auf den Würzburger Konferenzen zusammenfanden, zum anderen politische Strömungen, die eine stärkere Integration im Deutschen Bund hin zu einem Bundesstaat forderten. Und es gab stärkere Kräfte, die bewirkt haben, daß dieser Prozeß nach dem erfolgreichen Auftakt des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuchs keine Fortsetzung auf der Ebene des Deutschen Bundes fand. Da ist die Bundesakte von 1815, die aufgrund des sehr eingeschränkten Bundeszwecks keine Rolle bei einem Innenausbau des Bundes spielen konnte, weshalb die Etablierung einer neuen Zivilrechtsordnung auf dem Umweg über Modellgesetze angestrebt wurde. Vor allem jedoch haben die großen Bundesstaaten diesen Innenausbau nicht gewünscht, weil sie ebenso stark auf die Wahrung ihrer Souveränität wie auf die Bekämpfung liberaler Tendenzen bedacht waren.
Als sich die Verhältnisse geändert hatten, konnten sich die Kräfte, die eine neue Zivilrechtsordnung entstehen lassen wollten, plötzlich ungehindert entfalten. Ein preußisch dominiertes Kleindeutsches Reich bot politisch wie verfassungsrechtlich die idealen Bedingungen für das Entstehen einer solchen Ordnung. Denn nun wünschte Preußen einen Innenausbau, der die im neugegründeten Reich bestehende Rechtszersplitterung beenden sollte. Diese Rahmenbedingungen allein wiederum hätten freilich gar nichts bewirkt, wenn die Mittelstaaten in der Spätphase des Deutschen Bundes nicht bereits dafür gesorgt hätten, daß von einigen, zum Teil über Jahre hinweg tagenden Kommissionen auf zahlreichen Feldern fertige Entwürfe erarbeitet wurden - jetzt wurden die Trauben geerntet. Freilich konnte die neue Zivilrechtsordnung nur auf einem wesentlich kleineren Territorium als ursprünglich geplant wirksam werden, so daß ein weiterer Ausbau des durch das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch geschaffenen mitteleuropäischen Zivilrechtsraumes unterblieben ist.
Publikation: Löhnig/Wagner (Hrsg.), Deutscher Bund und nationale Rechtseinheit, Tübingen (Mohr Siebeck) 2024